Autismus-Diagnose bei Erwachsenen: Wann ist eine Abklärung sinnvoll?

Viele Menschen stellen erst im Erwachsenenalter fest, dass sie im Autismus-Spektrum sind. Was jahrelang als Eigenheit oder Schwierigkeit abgetan wurde, bekommt plötzlich einen Namen. Die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung kann im Erwachsenenalter eine echte Erleichterung sein.

Doch wann macht eine professionelle Abklärung wirklich Sinn? Und wie unterscheiden sich Online-Selbsttests von einer echten Diagnostik? In diesem Ratgeber erfahren Sie, worauf es bei der Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter ankommt.

[fs-toc-h2]1. Typische Anzeichen für Autismus im Erwachsenenalter

Autismus zeigt sich bei Erwachsenen oft anders als bei Kindern. Viele Betroffene haben über Jahre Strategien entwickelt, um ihre Besonderheiten zu kompensieren. Dieses sogenannte „Maskieren" kann allerdings auf Dauer erschöpfend sein.

Folgende Merkmale können auf eine Autismus-Spektrum-Störung hinweisen:

• Schwierigkeiten im sozialen Miteinander, obwohl Sie sich wirklich Mühe geben
• Starkes Bedürfnis nach festen Routinen und Strukturen im Alltag
• Intensive Spezialinteressen, in die Sie regelrecht eintauchen
• Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen wie Lärm, Licht oder Gerüchen

Diese Anzeichen allein machen noch keine Diagnose aus. Wichtig ist, dass die Merkmale seit der Kindheit bestehen und den Alltag beeinträchtigen. Viele Erwachsene berichten, dass sie sich schon immer anders gefühlt haben, ohne zu wissen warum.

[fs-toc-h2]2. Selbsttests im Internet: Orientierung, aber keine Diagnose

Im Netz finden Sie zahlreiche Autismus-Selbsttests. Der bekannteste ist wohl der Autism Spectrum Quotient nach Simon Baron-Cohen. Solche Tests können ein erster Anhaltspunkt sein, wenn Sie bei sich autistische Züge vermuten.

Allerdings haben Online-Tests klare Grenzen. Sie basieren auf Selbsteinschätzung und berücksichtigen nicht die komplexen Zusammenhänge, die eine Fachperson erkennen würde. Manche Menschen mit Autismus überschätzen ihre sozialen Fähigkeiten, andere unterschätzen sie massiv.

Ein auffälliges Testergebnis bedeutet nicht automatisch Autismus. Umgekehrt schließt ein unauffälliges Ergebnis eine Autismus-Spektrum-Störung nicht aus. Die Tests können höchstens eine erste Richtung vorgeben.

Nehmen Sie Selbsttests also als das, was sie sind: Eine Orientierungshilfe, keine Diagnose. Wenn Sie nach einem Test verunsichert sind oder sich bestätigt fühlen, ist der nächste Schritt der Gang zur Fachperson.

[fs-toc-h2]3. Der Weg zur professionellen Diagnostik

Die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung bei Erwachsenen ist anspruchsvoll. Sie erfordert spezialisierte Fachkräfte und mehrere Untersuchungstermine. Der Prozess kann sich über Wochen oder sogar Monate ziehen.

Zunächst erfolgt in der Regel eine ausführliche Anamnese. Dabei werden Ihre aktuelle Lebenssituation, Ihre Kindheit und Ihre Entwicklung besprochen. Besonders wichtig sind Informationen aus Ihrer frühen Kindheit, denn autistische Merkmale müssen schon damals vorhanden gewesen sein.

Die eigentliche Diagnostik umfasst verschiedene Bausteine:

• Strukturierte klinische Interviews wie das ADOS oder ADI-R
• Neuropsychologische Tests zur Erfassung kognitiver Besonderheiten
• Fragebögen für Sie selbst und idealerweise für nahestehende Personen
• Ausschluss anderer Erkrankungen durch Differenzialdiagnostik

Eine Herausforderung ist die Fremdanamnese. Idealerweise sollte eine Person befragt werden, die Sie seit der Kindheit kennt. Bei manchen Erwachsenen ist das schwierig, etwa wenn die Eltern nicht mehr leben oder der Kontakt abgebrochen ist. In solchen Fällen können alte Schulzeugnisse oder Arztberichte weiterhelfen.

[fs-toc-h2]4. Wartezeiten und Anlaufstellen: Mit Geduld zum Ziel

Seien Sie auf lange Wartezeiten vorbereitet. Spezialisierte Ambulanzen und Praxen haben oft Wartelisten von zwei Jahren oder mehr. Manche Einrichtungen nehmen sogar keine neuen Patienten mehr auf oder begrenzen ihr Einzugsgebiet regional.

Ihre erste Anlaufstelle kann die Hausarztpraxis sein. Von dort bekommen Sie in der Regel eine Überweisung zu einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis. Noch besser ist der direkte Weg zu Einrichtungen, die auf Autismus bei Erwachsenen spezialisiert sind.

Mögliche Anlaufstellen sind:

• Autismus-Ambulanzen an Universitätskliniken
• Psychiatrische Kliniken mit Autismus-Schwerpunkt
• Spezialisierte Praxen für Erwachsenen-Autismus
• Autismus-Therapiezentren mit Diagnostik-Angebot

Die Kosten für eine leitliniengerechte Diagnostik übernimmt die gesetzliche Krankenkasse. Private Diagnostiker arbeiten häufig schneller, verursachen aber Kosten im vierstelligen Bereich, die Sie selbst tragen müssen.

Nutzen Sie die Wartezeit sinnvoll. Sammeln Sie alte Dokumente wie Zeugnisse oder Arztbriefe. Führen Sie ein Tagebuch über Situationen, die Sie besonders belasten. Je besser Sie vorbereitet sind, desto aussagekräftiger wird die Diagnostik.

[fs-toc-h2]5. Spätdiagnose bei Frauen: Ein oft übersehenes Phänomen

Frauen erhalten oft deutlich später eine Autismus-Diagnose als Männer. Das liegt unter anderem daran, dass Autismus bei Frauen andere Gesichter hat. Viele autistische Mädchen und Frauen sind Meisterinnen im „Maskieren".

Sie beobachten ihr Umfeld genau und imitieren soziales Verhalten. Nach außen wirken sie angepasst und unauffällig. Innerlich kostet diese Anpassungsleistung jedoch enorme Kraft. Nicht selten führt das langfristig zu Erschöpfung, Burnout oder Depression.

Früher gingen Fachleute davon aus, dass Autismus hauptsächlich Jungen betrifft. Heute wissen wir, dass das Geschlechterverhältnis ausgeglichener ist als lange angenommen. Die Dunkelziffer nicht diagnostizierter autistischer Frauen ist vermutlich erheblich.

[fs-toc-h2]6. Was eine Diagnose im Erwachsenenalter bringt

Sie fragen sich vielleicht, ob eine Diagnose überhaupt noch sinnvoll ist, wenn Sie Ihr halbes Leben ohne sie gemeistert haben. Die Antwort lautet meistens: Ja, absolut.

Eine Diagnose schafft Klarheit. Plötzlich verstehen Sie, warum bestimmte Dinge für Sie so anstrengend sind, die anderen mühelos von der Hand gehen. Sie können aufhören, sich für Ihre Eigenheiten zu schämen oder sich ständig anzupassen.

Konkrete Vorteile einer Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter:

• Zugang zu spezifischer Therapie und Beratung
• Möglichkeit zum Schwerbehindertenausweis mit Nachteilsausgleichen
• Besseres Selbstverständnis und mehr Selbstakzeptanz
• Erklärung gegenüber Familie, Freunden oder Arbeitgeber

Viele Menschen berichten, dass die Diagnose ihr Leben verändert hat. Sie können endlich gezielt nach Unterstützung suchen und müssen sich nicht mehr verbiegen. Manche entdecken sogar Stärken, die direkt mit ihrem Autismus zusammenhängen.

Natürlich kann eine Spätdiagnose auch herausfordernd sein. Es braucht Zeit, sich mit der neuen Identität als autistische Person auseinanderzusetzen. Vielleicht trauern Sie um die Jahre, in denen Sie keine Erklärung für Ihre Schwierigkeiten hatten.

[fs-toc-h2]7. Vorsicht vor der Wunschdiagnose

In den letzten Jahren ist Autismus präsenter geworden. Das ist grundsätzlich positiv, denn es reduziert Stigmatisierung. Gleichzeitig führt es dazu, dass manche Menschen überzeugt sind, autistisch zu sein, obwohl andere Erklärungen näher liegen.

Fachleute sprechen von der Problematik der Wunschdiagnose. Manche Erwachsene sehen in Autismus die einzige Erklärung für ihre psychosozialen Schwierigkeiten. Sie drängen auf eine Diagnose, selbst wenn die Kriterien nicht erfüllt sind.

Eine sorgfältige Differenzialdiagnostik ist daher entscheidend. Symptome, die auf den ersten Blick autistisch wirken, können auch andere Ursachen haben:

• Soziale Ängste durch Angststörungen
• Kommunikationsschwierigkeiten bei ADHS
• Sozialer Rückzug bei Depression
• Routinebedürfnis bei Zwangsstörungen

Eine gute Diagnostik schließt solche Alternativerklärungen systematisch aus oder stellt sie neben der Autismus-Diagnose fest. Denn Begleiterkrankungen sind bei Autismus keine Seltenheit.